28. Februar 2020

Sich auf den Weg machen

VBE Artikel zum Wertedialog in Weimar mit Düzen Tekkal und Martin Kranz

von Juliane Moghimi, tlv

Eindrücke von der GermanDream-Auftaktveranstaltung in Thüringen am 20. Januar in Weimar

Chana ist 15 und hat nur diesen einen Traum: einmal raus aus Weimar, wo sie seit ihrer Geburt festhängt, einmal raus aus Deutschland und was sehen von der Welt – wenn auch nur für kurze Zeit, denn sie weiß, dass es ein unschätzbares Privileg ist, hier leben zu dürfen. Reisen kann die Tochter armenisch-jesidischer Einwanderer nur in Gedanken, wenn sie die Instagram-Profile ihrer Freunde mitverfolgt. Weil sie, obwohl sie in Weimar zur Welt kam, keinen Pass hat und zusammen mit ihrer Familie in Deutschland lediglich geduldet ist, darf sie nicht frei über ihren Aufenthaltsort bestimmen, sind selbst die offenen Grenzen in der EU für sie unüberwindbare Hindernisse. Gleichwohl beschwert sich Chana nicht, sie stellt lediglich ihren Mangel fest und betont, dass sie dennoch unsagbares Glück hat: „Wäre ich als Jesidin in Armenien geboren worden, dann wäre ich jetzt nicht in der Schule. Dann wäre ich längst schon Hausfrau.“

Ihre Klassenkameradin Fatma treiben ganz andere Fragen um. Seitdem sie bei ihrem „Erzeuger“, wie sie ihn nennt, am eigenen Leib spüren musste, dass sie auch hier in Deutschland als Mädchen in seinen Augen viel weniger wert ist als ihr Bruder („Geh und hilf deiner Schwester beim Putzen, während wir Männer uns unterhalten!“), tritt sie bewusst für Gleichberechtigung ein. Den Kontakt zum Vater hat sie längst abgebrochen, aber von echter Chancengleichheit, sagt sie, könne sie weiter nur träumen. „Ich will als Frau ernstgenommen werden. Ich bin kein Püppchen, und ich will nicht, dass mir jemand Anzügliches hinterherruft, wenn ich auf der Straße einen Rock trage.“

»Die Hitliste der Werte.«

Es ist starker Tobak, der da im Klassenraum der 9R auf den Tisch kommt. Dass er überhaupt auf den Tisch kommt, ist Düzen Tekkal zu verdanken. Die Berliner Journalistin und Buchautorin hat vor einem guten halben Jahr die Bildungsinitiative GermanDream gegründet, mit der der VBE und seine 16 Landesverbände seit November 2019 kooperieren. Das Herzstück dieser Initiative sind die Wertedialoge: Düzen Tekkal und andere Wertebotschafter kommen in die Schulen, um mit jungen Leuten über die Themen zu diskutieren, die ihnen wichtig sind. Die Kernfrage dabei lautet: Welche Werte haben wir, wie können wir diese in der Gesellschaft wirksam vertreten und welche Chancen eröffnen sich dadurch?

Das Gespräch mit den Schülern der Klasse 9R der Thüringer Gemeinschaftsschule „Carl Zeiss“ in Weimar ist der erste Wertedialog in Thüringen und der zweite in Zusammenarbeit mit dem VBE. 14 junge Menschen sitzen dort, außerdem ihre Klassenlehrerin, die Schulsozialarbeiterin und der Schulleiter Thomas Fleischer, langjähriges tlv-Mitglied, dessen Engagement diese Auftaktveranstaltung mit Pressebegleitung in „seiner“ Schule überhaupt erst möglich gemacht hat.

Auch für den VBE-Bundesvorsitzenden Udo Beckmann ist GermanDream zu einer echten Herzensangelegenheit geworden, deshalb ist er in Weimar dabei. „Werteerziehung an Schule ist Eltern und Lehrkräften enorm wichtig und sie wird in Zukunft noch relevanter werden. Aber den Schulen fehlt es vielfach an den notwendigen Gelingensbedingungen für die Umsetzung“, sagt er später an diesem Tag bei einer Pressekonferenz in Erfurt. „Es freut mich ungemein, dass wir in Form der Wertedialoge die Werte unseres Grundgesetztes nun gemeinsam mit GermanDream im direkten Dialog an Schule erlebbar machen. Denn so schaffen wir ein wertvolles Unterstützungsangebot für Schulen. Jeder Wertedialog ist auch Multiplikator, innerhalb von Schulen und über Schulen und Grenzen hinweg. Jeder Wertedialog ermutigt Schülerinnen und Schüler zu mehr (Eigen)-Verantwortung und gesellschaftlichem Engagement.“

»Werteerziehung an Schule ist Eltern und Lehrkräften enorm wichtig und sie wird in Zukunft noch relevanter werden.«

Die erste Aufgabe für die Schüler in Weimar, sozusagen der Türöffner, besteht in einem Ranking verschiedener Werte. Die Schüler sollen aus zehn Möglichkeiten ihre Top 3 auswählen, dann kurz vortragen und ihre Auswahl begründen. An oberster Stelle rangiert bei der 9R die Gesundheit – „weil ohne Gesundheit alles andere auch keinen Wert hat.“ Den zweiten Platz teilen sich Freiheit und Liebe, dann folgt das Vertrauen. Nicht schlecht für eine Generation, der man als Mensch jenseits der 30 ja gern mal nachsagt, sie sei oberflächlich und vor allem materiell orientiert

»Es wird persönlich … und politisch.«

Und dann erzählen Düzen Tekkal und Martin Kranz, der zweite GermanDream-Wertebotschafter an diesem Vormittag, ihre eigenen Geschichten. Düzen ist die Tochter türkisch-jesidischer Einwanderer, Martin als Sohn eines Pfarrers in der DDR groß geworden. Für beide ist die Freiheit einer der wichtigsten Werte, weil sie das Leben in Unfreiheit kennen: Düzen erzählt, wie sie kämpfen musste, um Dasselbe tun zu dürfen wie ihre deutschen Mitschüler. Martin durfte wegen seiner Gesinnung zunächst kein Abitur machen. Düzen wurde Journalistin und Kriegsberichterstatterin, Martin Sänger und dann Kulturmanager. Er gründete unter anderem die ACHAVA Festspiele Thüringen, um einen Impuls für den interreligiösen und interkulturellen Dialog in Deutschland zu setzen. Ihr Engagement für die durch einen regelrechten Völkermord grausam verfolgten Jesiden brachte die beiden im Jahr 2014 zusammen.

Bei GermanDream geht es darum, was es heißt, heute als junger Mensch in Deutschland zu leben. „Die Themen, mit denen sich GermanDream beschäftigt, betreffen uns alle“, erklärt Düzen Tekkal. „Egal, ob mit oder ohne Migrationshintergrund. Es geht nicht darum, wo man herkommt, sondern wo man hinwill.“ Ronny aus Pasewalk und Achmed aus dem Ruhrpott hätten mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheine: Beide seien Deutsche, beide könnten sich abgehängt fühlen – und dann leichte Beute für die Rattenfänger aus dem rechten oder aus dem islamistischen Spektrum werden. Auch Martin Kranz ist sich sicher: „Wir können es nur gemeinsam schaffen.“ Ein gesunder Patriotismus sei dabei wichtig und nicht mit Nationalismus gleichzusetzen: „Wir dürfen das Deutschsein nicht den Hasspredigern überlassen“, mahnt Düzen Tekkal. „Die deutsche Fahne gehört für mich in die Mitte der Gesellschaft, nicht an ihre Ränder.“

Aber die Schüler der 9R haben noch anderes auf dem Herzen. Nach den mutigen Statements von Chana und Fatma melden sich auch ihre Klassenkameraden zu Wort. Fabienne ist Vegetarierin und findet es schrecklich, wie viel Fleisch wie billig verkauft wird. „Ich unterstütze Fridays For Future“, sagt sie selbstbewusst, „denn das Thema betrifft uns alle. Ich will nachhaltig leben – für unsere Kinder.“ Nicklas macht sich Gedanken über die politischen Verhältnisse in Deutschland. „Es wäre schön, wenn ich schon mit 16 zu Wahl gehen dürfte. Aber ich wüsste momentan eigentlich gar nicht, wen ich wählen sollte. Also nicht, weil ich keine Ahnung habe, sondern weil es einfach keine Partei gibt, hinter der ich stehen könnte.“ Auch das Verhältnis der deutschen Politik zu den USA sieht der Neuntklässler sehr kritisch.

Glaubwürdigkeit ist ein weiteres Thema, das die jungen Leute umtreibt. „Wieso dürfen Politiker ungestraft Fakenews verbreiten?“, will Joshua wissen. Er wünscht sich außerdem, dass die Steuergelder sinnvoller investiert werden. Dann spricht er sich für die Legalisierung von Cannabis aus und tritt damit eine kleine Diskussion los. Er ist nicht der Einzige, der so denkt. Und Düzen Tekkal tappt nicht in die Belehrungsfalle, sie wertet nicht und gibt keine Tipps – aber sie erzählt, was sie als Journalistin beim IS gesehen hat: dass auch sehr junge Menschen Drogen einsetzten, um sich zu betäuben und dann, abgeschnitten von ihren Gefühlen, die schlimmsten Gräueltaten zu begehen. Ihre klare, aus der Beobachtung entstandene Botschaft hinterlässt sichtlich Eindruck.

 

»Ermutigungen für den Weg.«

Diesen jungen Leuten zuzuhören, ist eine Offenbarung – denn dies ist eben nicht der Debattierclub eines altsprachlichen Gymnasiums in einem vornehmen Villenviertel. Wir sind in einer Regelschulklasse in einer Plattenbausiedlung am Rande von Weimar. Auf der Fahrt hierher mit dem Linienbus hat hinter mir jemand, der vermutlich selbst keinen IQ von 130 hat, einen entgegenkommenden Autofahrer als „Mongo“ beschimpft, am fußläufigen Supermarkt standen schon um neun Uhr morgens Männer mit ihren Flaschen. Privilegiertes Aufwachsen findet woanders statt – aber diese Jungs und Mädels wissen sehr genau, worauf es ankommt. Allen Vorurteilen der sogenannten Erwachsenen zum Trotz.

Und sie haben fantastische Menschen an ihrer Seite. Da ist die Schulsozialarbeiterin, die sich als „die Stimme der Schüler“ versteht und deshalb ganz selbstverständlich dabei ist an diesem Vormittag. Da ist die neue Klassenlehrerin, die von ihrer 9R schwärmt und sich dem oft rauen Umgang auf den Schulfluren entschieden entgegenstellt. Da ist der Schulleiter, der Nicklas ins Gesicht sagt: „Dann werde selbst Politiker. Du kannst das. Organisiere dein Leben so, dass dein Traum wahr wird.“

Und nicht zuletzt sind da Düzen Tekkal und ihr GermanDream. „Wartet nicht auf irgendwen“, mahnt sie zum Schluss. „Es wird keiner kommen und euch herausholen – weder aus der Schmollecke, noch aus eurer Komfortzone. Findet heraus, wer ihr sein wollt, und dann leistet euren Beitrag. Seid Menschen mit einer Leidenschaft!“ Oder, wie Martin Kranz es formuliert: „Man muss sich einfach auf den Weg machen.“

Autorin: Juliane Moghimi, Thüringer Leherverband (tlv) 

 

2 Antworten zu “Sich auf den Weg machen”

  1. Dr. Murat Üstünel sagt:

    Guten Tag,

    ich möchte mich gerne für die Zoom-Veranstaltung für diesen Donnerstag, 26.11.2020, bei der auch Frau Bahar Aslan teilnimmt, anmelden. Laut Instagram hier aıf Ihrer Website, finde allerdings den Anmelde-Link nicht. Kann ich auch über diesen Weg mich anmelden und die Zoom-Zugangsdaten erhalten?

    Ich danke im Voraus.

    Mit freundlichen Grüßen,
    Dr. Murat Üstünel
    -Vorstandsmitglied TD-Plattform e.V.-

    • miriam sagt:

      Lieber Herr Üstünel,

      leider habe ich Ihren Kommentar gerade erst in den Tiefen unserer Website entdeckt.
      Wir hoffen sehr, dass Sie sich noch anmelden und teilnehmen konnten.

      Sollten Sie bei der Anmeldung zur nächsten Veranstaltung erneut Schwierigkeiten haben, schreiben Sie uns am besten eine kurze Mail an wertstatt@germandream.de oder nutzen das Kontaktformular unserer Website.

      Herzliche Grüße sendet
      Miriam Federgreen

      GermanDream Team

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