21. April 2020

#Alltagshelden: Wertebotschafter und Sozialarbeiter Tilman Volmary berichtet aus seinem Alltag in Corona-Deutschland

 

Krise trifft die Schwächsten der Gesellschaft leider in der Regel besonders stark. Sie brauchen in Zeiten der Not die meiste Unterstützung, um ihren Alltag weiterhin bewältigen zu können. Unser wunderbarer Wertebotschafter Tilman Volmary arbeitet als Sozialarbeiter bei  AID Kreuzberg, des Trägers Notdienst Berlin e.V., der sich der psychosozialen Betreuung und Substitution von Suchtmittelabhängigen widmet. Ein Bereich der systemrelvanten Arbeit, der wenig öffentlichkeitswirksam, aber umso bedeutsamer für viele Menschenleben ist.

Um auch hier einen Einblick zu bekommen, wie sich auch diese Leben in Zeiten von Corona verändert haben, was nun für sie besonders wichtig geworden ist und wie sie mit dieser herausfordernden Situation umgehen, haben wir Tilman und seiner Kollegin Corinne ein paar Fragen gestellt.

Tilman und Corinne vor der Tür von AID Kreuzberg

Wie hätte ein normaler Arbeitstag vor der Corona-Krise für euch ausgesehen?

Tilman: Dazu muss man zunächst erklären, dass wir eine Einrichtung mit einem speziellen Konzept sind: Zum einen gibt es hier die Arztpraxis, die schwerpunktmäßig Patient*innen in Substitution versorgt. Zum anderen gibt es hier unser Team aus Sozialarbeitern, die die Patient*innen in ihrer Substitutionsbehandlung begleiten und zum Thema Sucht als auch so gut wie allen anderen Bereichen des Lebens unterstützen und beraten. Jeder von uns hat einen festen Stamm an Patient*innen, die wir versuchen mind. 1x/Woche persönlich zu sprechen.

Corinne: An einem „normalen“ Arbeitstag sehen wir unsere Klienten entweder zu festen Terminen oder je nach Bedarf in unseren Büros. Wir führen u.a. Gespräche, Telefonate für und mit unseren Klient*innen, begleiten zu Außenterminen. Zusätzlich finden regelmäßig Gruppenangebote zu verschiedenen Themen sowie Freizeitaktivitäten statt. Während der Schließzeiten der Ambulanz haben wir Zeit, um unsere Arbeit zu dokumentieren, Hilfepläne zu erstellen und nachgehende Arbeit zu leisten.

Tilman: Ich finde zu einem „normalen“ Tag gehört dazu, dass er nicht so verläuft wie man sich das am Morgen vorgestellt hat. Klient*innen kommen oft ungeplant mit Anliegen, die Ärzt*innen holen uns spontan zu gemeinsamen Gesprächen oder Klient*innen sind stark intoxikiert oder aber sind in einer Krise.

Das klingt als wäre bereits jeder normale Tag immer wieder aufs Neue eine Herausforderung für Euch. Wie sieht so ein Arbeitstag heute für euch aus? Was hat sich verändert?

Tilman: Aktuell ist es leider nicht möglich, unsere Arbeit wie gewohnt zu machen. Um das Ansteckungsrisiko so gering wie möglich zu halten, haben wir unser Team aufgeteilt und arbeiten abwechselnd nur vor- oder nachmittags. Außerdem gibt es die Arbeitsanweisung unserer Geschäftsführung, keine Gespräche länger als 15 Minuten und mit großem Abstand zu führen. Unsere Klient*innen müssen derzeit im Türrahmen Halt machen, wodurch vertrauensvolle Gespräche nur schwer möglich sind.

Corinne: Um den Schutz aller Beteiligten sicherstellen zu können, dürfen sich derzeit nur noch maximal 5 Patient*innen gleichzeitig in der Ambulanz aufhalten. Dafür ist es notwendig, während der Öffnungszeiten Personal vor der Eingangstür zu positionieren. Diese Aufgabe wird hauptsächlich von den Hausmeistern und neuerdings auch von einem externen Sicherheitsdienst übernommen.

Um Pausen zu gewährleisten, springen auch wir regelmäßig als „Türsteher*innen“ ein. Dafür wurden wir mit entsprechenden Gesichtsmasken sowie Walkie-Talkies ausgestattet.

Die beschriebenen Veränderungen im Einrichtungs- und Betreuungsalltag führten bei den Klient*innen anfänglich zu Verunsicherungen, teilweise Unverständnis und Aggressivität. Wir vermuten, dass dies u.a. mit der Sorge einherging, dass die Ambulanz eventuell schließen muss. Mittlerweile hat sich die Situation erheblich entspannt und der Großteil unserer Klient*innen kann sich gut mit den aktuellen Gegebenheiten arrangieren und ist dankbar, dass wir weiterhin vor Ort sind.

Gibt es etwas was euch dabei besonders negativ/positiv auffällt?

Corinne: Als besonders positiv empfinde ich die Unterstützung durch unseren Träger – insbesondere, dass in sehr kurzer Zeit Maßnahmen zum Umgang mit der Corona Pandemie beschlossen wurden. Insgesamt reagiert und agiert der Notdienst sehr flexibel und versucht alles, um die Mitarbeiter*innen und Klient*innen zu schützen und die Arbeit soweit es geht aufrechtzuerhalten.

Tilman: Auf den ersten Blick ist es viel ruhiger in der Einrichtung und man hat durchaus Zeit für Dinge, die sonst liegen bleiben.

Für mich schwingt da aber immer das Gefühl mit, gerade keine richtige Betreuung durchführen zu können. Mir fehlen besonders die gemeinsamen Gespräche mit Klient*innen und den behandelnden Ärzten, wo oft Entscheidungen für die nächste Zeit getroffen werden.

Außerdem sind viele wichtige Angebote, zu denen wir unsere Klient*innen vermitteln bzw. ihnen bei der Organisation helfen, nicht verfügbar. Beispielsweise werden derzeit in so gut wie keinen Krankenhäusern Entzugsbehandlungen durchgeführt. Hier bleiben suchtkranke Menschen momentan auf der Strecke. Für sie sind das unter Umständen lebensrettende Behandlungen!

Habt ihr vielleicht eine kleine Anekdote aus dem Alltag parat?

Tilman: Corinne hatte beispielsweise gerade ein Gespräch mit einer Klientin, mit welcher sie für mehrere Geldstrafen eine Ratenzahlung bei der Staatsanwaltschaft beantragt und Daueraufträge bei der Bank eingerichtet hat, um eine Haftstrafe zu verhindern. Nun hat die Klientin die letzten Monate immer ihr Geld komplett abgehoben, so dass die Daueraufträge nicht ausgeführt werden konnten. Auf der einen Seite fragen wir uns in solchen Situationen immer: „Wie kann das sein? Es wäre doch wichtig, darauf zu achten, dass die Ratenzahlungen eingehalten werden“. Im „worst case“ könnte dies auf eine Haftstrafe hinauslaufen. Auf der anderen Seite wird dadurch auch immer wieder deutlich, dass unsere Klient*innen aufgrund ihrer Suchterkrankung in jeglichen Lebensbereichen umfangreichen Unterstützungsbedarf haben, vor allem in der jetzigen Situation.

Tilman vermisst seine KlientInnen, die er seit Beginn der Krise nicht mehr persönlich im Büro empfangen darf.

 

Wo seht ihr die größten Herausforderungen für die kommenden Wochen und Monate?

Tilman: Ich glaube, dass noch einiges auf uns zukommen kann. Auf Dauer werden die Einschränkungen im Arbeitsalltag sowie für die Klient*innen mit Sicherheit noch weitere Probleme hervorbringen, die noch nicht absehbar sind. Ich denke da beispielsweise an fehlende Anlaufstellen für wohnungslose Menschen sowie eingeschränkte Krankenhaus- und Therapieangebote. Dies begünstigt wiederum psychotische Schübe und aggressives Verhalten.

Eine große Herausforderung sehe ich besonders für die medizinische Abteilung unserer Ambulanz, welche weiterhin eine ärztliche Behandlung und Versorgung sicherstellen muss. Außerdem ist die Praxis auf die Verfügbarkeit von Schutzbekleidung und geeigneten Gesichtsmasken angewiesen.

Unsere Klientel gehört eindeutig zur Risikogruppe: allgemein geschwächtes Immunsystem durch jahrelangen Drogenkonsum, mangelnde Hygiene durch Obdachlosigkeit sowie Vorerkrankungen wie beispielsweise COPD. Das bereitet mir für die nächsten Monate Sorgen.

Corinne: Ich schließe mich Tilman an. Was den persönlichen Umgang damit angeht sehe ich die Herausforderung, bestimmte Einschränkungen auch längerfristig aufrechtzuerhalten und nicht unvorsichtig zu werden. Je länger und konsequenter wir uns an die getroffenen Schutzmaßnahmen halten, desto eher können wir mit einer positiven Entwicklung hinsichtlich der Eindämmung des Corona Virus rechnen.

Was würdet ihr euch jetzt von der Gesellschaft wünschen?

Corinne: Wertschätzung für alle (plötzlich) systemrelevanten Berufe. In unserem Fall für Mitarbeiter*innen in sozialen und gesundheitlich/pflegerischen Bereichen. Außerdem wünsche ich mir mehr Verständnis und weniger Stigmatisierung gegenüber abhängigkeitserkrankten Menschen. Dafür benötigen wir jedoch vor allem die Unterstützung seitens der Politik, beispielsweise durch eine finanzielle Aufwertung unserer Professionen in Form von flächendeckenden Branchentarifverträgen.

Tilman: Dem kann ich mich nur anschließen. Insgesamt legt die Situation offen, wie wesentliche Branchen in der Vergangenheit kaputtgespart worden sind und auch ohne Corona mit grenzwertigen Arbeitsbedingungen auskommen müssen. Einmal mehr wird klar, dass unser Wachstums- und Profitdogma nicht der richtige Weg ist. Die „Klimawandel-Kurve“ ist aus meiner Sicht viel schwieriger flach zu halten als die Kurve der Corona-Pandemie.

»Ich merke schon, auch ohne Corona wird es weiterhin Herausforderungen für unsere Gesellschaft geben! Was macht euch denn Hoffnung und wo seht ihr Chancen, die es vorher nicht gab?

Corinne: Ich persönlich bin sehr froh darüber, überhaupt weiterhin arbeiten zu können, wenn auch nur eingeschränkt und mit den entsprechenden Schutzmaßnahmen. Sogenannte „Krisen“ stellen eben auch Herausforderungen dar, die es zu bewältigen gilt.

Dafür braucht es alternative Lösungen, die gemeinsam erarbeitet werden müssen. In solch einer Situation zeigt sich u.a., ob Arbeitgeber und Mitarbeiter*innen in der Lage sind, flexibel und kreativ zu sein. In unserem Fall habe ich dieses Gefühl und wünsche mir, dass der aktuelle Zusammenhalt sowie die Bereitschaft, in der Suchthilfe neue und innovative Wege zu gehen, auch zukünftig bestehen bleibt.

Tilman: Ich finde es schön zu sehen, dass sowohl wir als Kolleg*innen als auch unsere Klient*innen sich an die neue Situation anpassen und einige Dinge anders organisiert werden können, so dass wir unter den gegebenen Umständen weiterhin Klienten betreuen können. Beispielsweise war für unsere Arbeit vorher kein Homeoffice vorgesehen, was nun möglich ist. Der essentielle Teil unsere Arbeit wird ohne Frage weiterhin im persönlichen Face-to-face-Kontakt stattfinden, Homeoffice kann aber bei der Dokumentation unserer Arbeit in der Zukunft für den ein oder anderen hilfreich sein.

Grundsätzlich wird mir an kleinen Beispielen bewusst, was wirklich wichtig ist, persönlich als auch im Arbeitsalltag. Ich denke da an näheren Kontakt zu Klienten bei Gesprächen und durch Gruppenangebote, sich bei Kolleg*innen aussprechen und die Zusammenarbeit mit der medizinischen Abteilung.

Letzten Endes sieht man aber, was für Veränderungen momentan allgemein überhaupt möglich sind. Das macht mir Mut!

Vielen Dank für dieses interessante Interview, liebe Corinne und lieber Tilman!

 

 

»Du hast ein Suchtproblem oder machst dir Sorgen um betroffene Freunde und Verwandte? Hilfe bei Drogenabhängigkeiten findest du in Deutschland über das Suchthilfeverzeichnis oder unter 01805 31 30 31. In der Schweiz bietet Safezone anonyme Online-Suchtberatung, lokale Suchtberatungsstellen findet man bei Infoset. In Österreich findest du Beratung über den Suchthilfekompass.

Eine Antwort zu “#Alltagshelden: Wertebotschafter und Sozialarbeiter Tilman Volmary berichtet aus seinem Alltag in Corona-Deutschland”

  1. Rico sagt:

    Ein toller Bericht der wirklich das meiste wichtigste gleich abdeckt:))
    Gerne auch in Zukunft mehr Fokus aus den Rand Gesellschaften die ja GENAUSO Menschen sind egal was für ein Schicksalsschlag zu was führte

    Und EIN wundervollen Dank und liebe Grüsse an das gesamte PsB Team und speziell an Corinne und Lilla ^^ was ihr alle gerade jetzt wieder leistet ist einfach der hammer und vieles was ihr investiert und opfert geht über Berufliches hinaus. Einfach nur herzlich mit ner riesen Menge Berufserfahrung so würd die PSB kreuzberg kurz beschreiben 🙂 Danke das es euch gibt

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